Weihnachtsgeschichte #145
Mehr als eine Geschichte
Liebe HEIMisch-Blog-Leserinnen und ‑Leser
Menschen lieben Geschichten, das steckt tief in unseren Genen. Es sind kaum hundert Jahre her, als es abends weder Radio noch TV oder sonstige Ablenkungen gab. Man setzte sich während der kalten Winterabende in der Stube zusammen und hörte den Erzählungen zu. Sie können das Zeitenrad auch tausend, zweitausend oder zehntausend Jahre zurückdrehen: Die Menschen sassen erzählend rund ums Feuer und sind bis heute empfänglich für gute Geschichten.
Ich weiss nicht, wie Sie zu Weihnachten stehen und möchte keinesfalls in religiöse Diskussionen abgleiten, aber ich habe mir erlaubt, eine Weihnachtsgeschichte zu erfinden, die in einem traditionellen Umfeld spielt und einen Hauch «heile Welt» in sich trägt; ihre Botschaft ist jedoch universell.
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen.
Die Weihnachts-Kerze
Es war in einem abgelegenen Dorf im Schweizer Jura, oben auf über 1‘000 Metern, dort wo der Winter seinen Namen noch verdiente. Im Dorf gab es ein kleines Kirchlein, dessen geschmückte Fenster immer im Advent und an Heiligabend besonders einladend durch die Winternacht leuchteten. In diesem Jahr jedoch sollte etwas geschehen, was die Menschen nicht so schnell vergessen würden.
Am Dorfrand, in der Nähe des Kirchleins, lebte Eline zusammen mit ihrer Mutter. Sie waren bitterarm, hatten kaum genug zu essen, seit der Vater vor zwei Jahren bei Waldarbeiten ums Leben gekommen war. Mit Mühe und Not hatte ihre Mutter es geschafft, dass sie weiterhin im Försterhäuschen wohnen konnten. Im Dorf waren sie nicht sonderlich angesehen, lebten sie doch sehr zurückgezogen und waren auch nie im Wirtshaus anzutreffen. Dafür fehlten Zeit und Geld. Doch Eline hatte ein grosses Herz, und obwohl sie sich keine Geschenke leisten konnten, liebte sie Weihnachten. Jeden Abend, wenn die Sterne am Himmel funkelten, und das Dorf sich in die Schneewehen duckte, setzte sich Eline ans Fenster und schaute hinüber zum Kirchlein, wo Kinder für das Krippenspiel übten und Weihnachtslieder sangen. Sie spürte die fröhliche Stimmung auch aus der Entfernung und wäre gerne dabei gewesen, aber sie hatten nichts, was als Kostüm für das Krippenspiel getaugt hätte.
Heiligabend rückte näher und Elines Wunsch wurde mit jedem Tag grösser. Als ihre Mutter am Vorabend von Heiligabend ins Zimmer kam, um Eline eine gute Nacht zu wünschen, fand sie ihre Tochter am Fenster sitzend. Auf den Wangen glitzerten Tränen. «Was ist los, mein Schatz? Wieso weinst du?», wollte sie wissen.
«Nichts, Mami, es ist nichts», antwortete Eline und zwang sich zu lächeln. Ihre Mutter hatte genug Sorgen, sie wollte sie nicht mit ihren Wünschen belasten.
Am 24. Dezember hatte die Sonne den ganzen Tag vom tiefblauen Himmel geschienen. Die Kinder hatten die Schlitten hervorgeholt und sich am Hang hinter dem Dorf vergnügt, während die Eltern alles für ein schönes Weihnachtsfest vorbereitet hatten. Überall war die Vorfreude auf das Fest zu spüren. Ausser bei Eline Zuhause. Ihre Mutter hatte einige Kerzenstummel vom letzten Jahr auf den Tisch gestellt, das war alles, was an Weihnachten erinnerte.
Die Sonne war untergegangen, hell leuchteten die Fenster und schickten ihr warmes Licht durch die Nacht. Vielerorts hatte man Laternen mit extra grossen Kerzen vors Haus gestellt, die während der ganzen Nacht brennen sollten. Eline hatte aus ihrem Fenster gesehen, wie die Menschen fröhlich schwatzend für das Krippenspiel zum Kirchlein gepilgert waren und nur mit Mühe geschafft, ihre Tränen zurückzuhalten. Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich schliesslich ab und schaute sich in ihrem Zimmer um. Da war nichts, was für ein Krippenspiel getaugt hätte. Nichts. Und jetzt war es sowieso zu spät. Aber sie wäre so gerne dabei gewesen!
Ohne bestimmte Absicht griff sie nach der obersten Schublade ihrer Kommode und zog daran. Sie klemmte, als wolle sie sich dagegen wehren, geöffnet zu werden. Eline zog und zerrte schliesslich daran, bis die Schublade auf einmal nachgab, herausglitt und zu Boden krachte. Wild verstreut lagen ihre Kleider herum. «Auch das noch», murmelte sie und begann, sie einzusammeln. Als sie den dicken, selbstgestrickten Pullover aufhob, kam darunter eine kleine Schachtel zum Vorschein. Eline hatte sie noch nie gesehen! Wahrscheinlich hatte sie ganz zuhinterst in der Schublade gelegen. Verwundert griff sie danach und öffnet sie. Darin waren eine kleine Kerze und ein gefaltetes Zettelchen. Neugierig griff Eline nach dem Zettelchen und begann zu lesen. Ihre Grossmama, die schon vor langer Zeit gestorben war, hatte diese Kerze vor vielen, vielen Jahren zu Weihnachten geschenkt bekommen und – so schien es – nie angezündet. Nun lag sie vor ihr in der Schachtel und Eline begann zu überlegen. Sollte sie …? Konnte sie …? Durfte sie …?
Einen Moment zögerte sie noch, dann nahm sie das Kerzlein behutsam heraus, schlich nach unten, schlüpfte in Schuhe und Jacke und verliess das Häuschen, ohne dass ihre Mutter etwas bemerkte. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen, als sie auf das Kirchlein zustapfte, doch vor der schweren Holztür verliess sie der Mut. Unentschlossen schritt sie hin und her, griff immer wieder nach dem Kerzlein in der Jackentasche, um sich zu versichern, dass es noch da war. Sie hörte die Stimmen der Kinder, die das Krippenspiel aufführten, hörte, wie die Menschen sangen und … getraute sich nicht.
Auf einmal erlosch das Licht in der Kirche. Nur das Flackern von Kerzen war noch zu sehen, als die Menschen begannen, «Stille Nacht, heilige Nacht» zu singen. Eline drückte die Türfalle herunter und betrat scheu das Kirchlein. Die Bänke links und rechts des Mittelgangs waren gefüllt, die Menschen sangen, niemand hatte sie bemerkt. Niemand ausser der Pfarrer, der auf einmal zu singen aufhörte. Er lächelte Eline zu und winkte ihr einladend zu, nach vorne zu kommen. Sie zögerte einen Moment, dann begann sie langsam nach vorne zu gehen und fühlte mit jedem Schritt mehr Blicke auf sich. Der Gesang wurde immer leiser, bis er erstarb. Die Menschen reckten die Köpfe, alle wollten sehen, wem der Pfarrer zugewinkt hatte. Hätte er Eline nicht weiterhin angestrahlt und mit der Hand gewinkt, sie hätte kehrt gemacht und wäre geflüchtet. Endlich vorne angekommen, beugte er sich zu ihr herunter und begrüsste sie: «Du bist Eline, stimmt’s?»
Sie nickte schüchtern, getraute sich aber nicht zu antworten.
«Herzlich willkommen, liebe Eline, schön bist du bei uns!»
Wieder nickte Eline nur. Ihr Hals war so trocken, sie hätte kein Wort herausgebracht. Schweigend beobachteten die Menschen in der Kirche die Szene, ohne zu verstehen, was gesprochen wurde.
Eline musste allen Mut zusammennehmen, um die kleine Kerze aus ihrer Jackentasche herauszuziehen. Wie einen kostbaren Schatz streckte sie sie dem Pfarrer hin. «Für das Jesuskind», flüsterte sie.
«Möchtest du sie anzünden und zum Jesuskind in die Krippe stellen», fragte der Pfarrer.
Eifrig nickte Eline.
Der Pfarrer nahm sie an der Hand und führte sie zur Krippe mit den Holzfiguren. Von einem Ständer nahm er eine Kerze und hielt sie Eline so hin, dass sie ihre kleine Kerze daran anzünden konnte. Und dann geschah etwas, was allen den Atem stocken liess. Es war wie ein Wunder. Niemand konnte es sich erklären. Elines Kerze strahlte so hell, dass sie das ganze Kirchlein in goldfarbenes, warmes Licht tauchte.
Es war mucksmäuschenstill, als auf einmal die Kirchentür geöffnet wurde und Elines Mutter eintrat. Der Pfarrer winkte sie ebenso freundlich zu sich wie er es zuvor bei Eline getan hatte und rief ihr entgegen: «Kommen Sie nach vorne zu Ihrer Tochter, wir feiern gerade das schönste Weihnachtsfest, das ich je erlebt habe.»
Der Pfarrer liess Elines Kerze die ganze Nacht hindurch und auch am 25. Dezember brennen, trotzdem wurde sie nicht kleiner. Seither wird sie in diesem kleinen Schweizer Dorf jedes Jahr an Weihnachten angezündet und verbreitet ihre Botschaft, dass auch das kleinste Licht, in Liebe angezündet, die ganze Welt erhellen kann.
Ich wünsche Ihnen von Herzen schöne Weihnachten – ob und wie Sie feiern, spielt für mich keine Rolle – betrachtet man Weihnachten als Fest der Liebe, gibt es weder konfessionelle noch andere Grenzen.
Ich freue mich, wenn Sie auch weiterhin zur treuen HEIMisch-Leserschaft gehören, diesen Blog weiterempfehlen und danke Ihnen, dass Sie öko trend bei Ihren Einkäufen berücksichtigen – falls nötig auch noch kurz vor Weihnachten 😉.
Wie üblich geht es in zwei Wochen weiter, diesmal mit dem Thema «Neujahr und Berchtoldstag».
Bis bald!
Ihr Bernhard Heim
Schlaf- und Wohnberater und Geschichtenerzähler
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Lieber Bernhard Heim
Ganz herzlichen Dank für diese wunderschönen Geschichten.
Ich glaube es passieren mehr Wunder auf dieser Welt als wir wirklich wahrnehmen, doch von diesen hören und sehen wir nicht so viel. Es sind die kleinen Dinge und die können sehr stark sein.
Ihnen und Ihrer Familie eine gesegnete Weihnachtszeit.
Mit lieben Grüßen
Theres Philipp